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Fremder Tanz

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Ein Bericht von Yuma Ito

Ich komme aus Japan, aus einem fernen Land mit einer der deutschen sehr fernen Kultur. Aber in Stuttgart, im Freien Jugendseminar fühlte ich mich Zuhause. All diese Gefühle waren am Schluss in meinem Abschlussprojekt enthalten.

Noch bevor ich ans Freie Jugendseminar kam, besuchte ich die Aufführungen eines Abschlussprojektes und war sofort begeistert. Junge Menschen in meinem Alter spielten so ehrlich, ausdrucksstark und lebensvoll auf der Bühne, dass in mir der Wunsch entstand: das will ich auch können!

Das war der Beginn meiner Zeit am Freien Jugendseminar. Die Gruppe der Freunde, die mit mir das Studium aufnahm, war besonders international. Es waren zehn Menschen, darunter zwei Deutsche, eine Französin, ein Costa-Ricaner, zwei Japaner und vier Brasilianer. Eine starke Mischung aus Temperamenten und Kulturen. Ich fühlte mich ein wenig wie im Zoo.

Eine andere Sprache finden

Ich sprach damals so gut wie kein Deutsch. Ich konnte ein paar einfache Dinge sagen, wie zum Beispiel „Hallo, wie geht’s?“, „Danke“, „Ja“ oder „Nein“, aber nicht mehr. Mit der Zeit haben wir begonnen, uns miteinander zu beschäftigen und uns besser zu verstehen, anfangs durch Gesten, Geräusche und viele Klischees. Aber mit der Zeit sogar durch Bothmer-Gymnastik, Eurythmie, Sprachgestaltung und Theosophie. So entstand langsam eine freundschaftliche Beziehung zwischen uns.

Als unser drittes und letztes Trimester begann, diskutierten wir über unser eigenes Abschlussprojekt und waren uns bald einig: Es sollte etwas Lustiges sein, mit viel Bewegung, Musik und eher wenig Sprache. Ich wollte mich persönlich mit den Themen „Lebendigsein“ und „Humor“ beschäftigen. Ich wollte dadurch auch Interessierte mit wenig Deutschkenntnissen begeistern und ihnen ermöglichen, an meiner Freude und meinen Fragen teilzuhaben. Außerdem hatte ich das Gefühl, meine Gefühle und Gedanken noch immer nicht so auf Deutsch ausdrücken zu können, wie ich wollte – aber durch Musik und Bewegung!

So dachten wir wohl alle und machten uns mit Freude an die Arbeit. Wir träumten davon, dass das gemeinsame Tun einfach sein und Spaß machen würde. – Die Wirklichkeit sah manchmal allerdings auch anders aus… Schon bald zerbrach der Traum. Die Arbeit war alles andere als einfach. Wir mussten „aufwachen“ um mit viel Motivation und innerem Ernst an die selbstgewählte Aufgabe zu gehen, wenn daraus etwas Gelungenes entstehen sollte. Wir mussten es wirklich wollen. Unsere Projektarbeit sollte nichts Halbes sein, sondern etwas, das uns tiefgreifend verändert – es sollte wirklich Kunst sein.

Krisen bewältigen, Motivation stärken

Immer öfter mussten wir uns mit Krisensituationen befassen. Diese mussten wir nicht mit Höflichkeit, sondern mit Konsequenz zu bewältigen lernen. Es mussten Ich-Entscheidungen sein. Ich entschied mich, die Herausforderungen anzunehmen. Und ich beobachtete nun, dass meine Motivation noch stärker wurde. Einige von uns konnten da jedoch nicht mitgehen und verließen das Projekt. Ich bin sicher: wenn diese Krisen nicht aufgetreten wären, wenn wir diese Entscheidungen nicht hätten treffen müssen, hätte unser Projekt nicht die Intensität gewonnen, die es am Ende für alle gehabt hat.

Eine unserer täglichen Aufgaben war die Übung eines komplizierten japanischen Tanzes mit extra aus Japan eingeflogenen Trommeln. Wir übten auch den brasilianischen Kampf-Tanz „Capoeira“. Wir spielten und sangen japanische Lieder – mit einer Brasilianerin als Sängerin. Wir sangen auch ein brasilianisches Lied und studierten eine brasilianische Tanzchoreographie, den Forró, ein. Dazu noch das „Kata“, eine längere Bewegungssequenz aus dem Karate, eine pantomimische Szene und mehr. Starke Mittel, um uns durch die Bewegung unseres Körpers auszudrücken.

Doch es brauchte eine lange Zeit, bis wir die feinen und komplizierten Bewegungen aufeinander abgestimmt hatten. Wir entschieden uns, eine unserer Proben auf Video aufzunehmen, um sie besser analysieren zu können. Wir lagen alle am Boden vor Lachen! Bis dahin war jeder von uns überzeugt gewesen, sich synchron mit den anderen zu bewegen – natürlich war das Gegenteil der Fall! Nach dieser aufschlussreichen Erfahrung wurden wir besser darin, auf die Bewegungen der anderen zu achten. Wir begriffen, wie wenig Bewusstsein wir teilweise für uns selbst und die anderen hatten.

Texte, die aus dem Herzen kommen

Der Titel unseres Projekts stammt von Projektleiter Jidu Pasqualini. Er meinte, dieser würde unsere Auseinandersetzung mit uns selbst angemessen widergeben. Als ich diese Worte hörte, tanzte mein Herz! Jidu verfasste außerdem kleine Texte für das Stück auf der Grundlage unserer vielen langen Gespräche und unserer eigenen Notizen über unsere Gedanken, Gefühle, Sehnsüchte und Ziele:

„Überall sind es Menschen auf der Suche nach Menschlichkeit. In den Fesseln von Systemen, die wir selbst schufen. Gefangene unserer eigenen Sicherheit, unserer eigenen Unwissenheit, unserer eigenen Vorurteile. Wir haben so viel Angst. Wir fliehen ständig vor den anderen, vor uns selbst. Was ist Mensch? Was braucht Mensch? Wann ist Mensch? Warum ist Mensch? Wo ist Mensch?“

„Heimat – was ist Heimat? Was bedeutet Heimat für dich? Ein Stück Herz? Welt ohne Schmerz? Die Schönheit, die Blindheit, die Freiheit der Kindheit? Zuhause bin ich dort, wo ich verstanden werde und akzeptiert, so wie ich bin. Wo ich sein kann, wie ich bin. Fremder Tanz: Bewegung des Herzens, ein Duft meiner Kindheit… Wo ist meine Heimat?“

Große Fragen

Keine dieser Fragen ist durch ein kleines Theaterstück zu beantworten. Uns ist jedoch deutlich geworden, wie wichtig der Umgang mit ihnen ist. Nach dieser Projektarbeit stelle ich sie mir immer noch selbst und denke über sie nach.

Ich komme aus Japan, aus einem fernen Land mit einer der deutschen sehr fernen Kultur. Aber in Stuttgart, im Freien Jugendseminar fühle ich mich Zuhause. Im Anschluss an mein Jahr im Seminar ging ich für drei Monate ins Saarland, um dort als Au-Pair bei einer Familie zu arbeiten, bevor ich schließlich begann, Eurythmie zu studieren. Das Saarland und diese Familie wurden mir schnell zu einer zweiten Heimat und Familie.

Wenn der Mensch den Menschen wirklich akzeptieren und verstehen würde, würde uns diese Welt überall eine Heimat werden können. Ich hoffe, dass die Menschen lernen, sich gegenseitig besser zu unterstützen. Damit wir verstehen, dass diese Erde unsere gemeinsame Heimat ist.