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Theosophie

Theosophie ist eines der vier Hauptfächer am Jugendseminar und beschäftigt sich mit der geistigen Natur des Menschen. Über Johann Gottlieb Fichte, das "Ich" und eine Reise nach innen.
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Von Sonja //

„Schließen sie alle ihre Augen“, Fichte sah seine Studenten auffordernd an. „Und jetzt denken sie sich eine Wand.“ Es wurde totenstill im Raum als ein jeder Schüler seine Augenlieder senkte. Nur ihr regelmäßiges Atmen war noch zu hören, etwas zu schnell, als dass man von einer entspannten Atmosphäre sprechen könnte. Es lag eine kaum merkliche Spannung in der Luft, die von der Neugierde der jungen Menschen erzeugt wurde.
„Sehen Sie alle eine Wand vor sich?“
Ein stilles Nicken. „Nun öffnen Sie Ihre Augen und erzählen Sie mir davon.“
„Meine Wand war sehr hoch“, sagte einer von ihnen. „Sie bestand aus roten aufeinander gesetzten Steinen.“
„Meine Wand war weiß“, sagte ein anderer. „Einfach nur weiß.“ Gedankenverloren starrte er in die Luft, als wolle er begreifen, warum ausgerechnet seine Wand keine Farbe hatte. „Meine war blau mit weißen Punkten.“
„Meine war aus braunen Holzbrettern zusammengenagelt.“ „Meine war aus grauen Steinen zusammengesetzt.“
Fichte hörte sich ihre Aussagen zufrieden an. „Sie bemerken wohl, dass jeder von Ihnen eine andere Wand in seiner Vorstellung erzeugt hat. Keiner von Ihnen kann sagen, wie die Wand des anderen genau aus- sieht, aber jeder denkt sich eine solche Wand. Die Idee „Wand“ verbindet Ihre individuellen Bilder, aus ihr gehen die vielfältigsten Formen hervor.
Nun, schließen Sie erneut Ihre Augen. Jetzt stelle ich Ihnen eine weitere Aufgabe:
Denken Sie den, der die Wand denkt!“
„Denken Sie den, der die Wand denkt?“
Mit dieser Aufgabe wurden nicht nur Fichtes Studenten konfrontiert, sondern auch wir machten während des Theosophie-Unterrichts unsere Bekanntschaft mit ihr.

Was ist dieses „Ich“?

„Und jetzt denkt euch einmal den, der die Wand denkt!“
Im Prinzip ist es ja eine leichte Aufgabe: Ich stelle mir eine Wand vor. Deswegen bin ich es, der die Wand denkt. Ich muss also nur „Ich“ denken, dann habe ich diese Aufgabe gelöst. Also, wie könnte dieses „Ich“ wohl aussehen?
Na ja, ich mache mir einfach ein Bild von mir selbst, das die Wand denkt.
Aber bin das denn „Ich“? Wenn ich sterbe, dann zerfällt mein Körper doch. Was geschieht dann mit meinem „Ich“? Wo genau befindet sich das „Ich“ überhaupt?
Wahrscheinlich in meinem Gehirn, ja, mein Gehirn erzeugt das „Ich“. Somit muss ich mir einfach mein Gehirn vorstellen, das jetzt diese Wand denkt. Moment einmal, ich stelle mir mein Gehirn vor? Korrekt wäre: Mein Gehirn stellt sich mein Gehirn vor, das die Wand denkt! Noch korrekter: Das Gehirn stellt sich das Gehirn vor, das die Wand denkt!
Also wie gesagt, im Prinzip eine leichte Aufgabe, da sie nun zufriedenstellend gelöst wurde. Das Problem ist nur, dass ich – pardon, dass das Gehirn – nun immer das Wort „Ich“ durch „das Gehirn“ ersetzen müsste, um sich auch wirklich an die Lösung der Aufgabe zu halten. Das Gehirn schreibt also nun diese Worte auf, um anderen Gehirnen davon zu berichten, was die Gehirne während des Theosophie-Unterrichts so denken.

Die eigene Weltanschauung erweitern

Während Fichte daran verzweifelt ist seinen Mitmenschen die dringliche Frage nach dem „Ich“ begreiflich zu machen, greift Rudolf Steiner diese auf und ist sich sicher, dass ein jeder Mensch, ungeachtet dessen, wo er gerade in seinem Leben steht, diese Frage begreifen kann, um sie anhand des eigenen Erlebens zu beantworten. Es geht um die Erweiterung der Vorstellung und um die Grenzverschiebung der eigenen Weltanschauung. Denn genauso gut, wie man die Existenz des Geistes leugnen kann, kann man sich für diese Annahme öffnen, um selbst zu erforschen, ob sie nicht eine Berechtigung haben könnte. Genauso
gut, wie man die Aufforderung stellen kann: Beweise mir, dass es einen Geist gibt, kann man die Aufforderung stellen: Beweise mir, dass es keinen Geist gibt!
Dadurch stößt man auf Fragen, wie Fichte sie gestellt hat. Er gehört zu einer Reihe von Philosophen, Künstlern und Wissenschaftlern, die darum rangen Gedanken zu formulieren, um sich der Frage nach dem eigentlichen inneren Kern des Menschen zu nähern. Rudolf Steiner hat sich mit vielen solcher Gedankengänge beschäftigt, um diese schließlich mit seinen eigenen Gedanken und Anschauungen zu verknüpfen. In seinem Buch „Theosophie“ trägt er die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit zusammen. „Theosophie“ bedeutet „göttliche Weisheit“ und bezieht sich auf die Frage nach dem geistigen Wesenskern des Menschen. Es geht um die Veranschaulichung eines Menschenbilds, welches nicht nur aus dem, mit unseren Sinnen wahrnehmbaren, physischen Leib besteht, sondern sich zudem aus Ätherleib (Lebenskraft), Astralleib (Seele) und Geist (Ich) zusammensetzt.

Der Spiegel der Welt in mir

Der Mensch kann sich in dreifacher Art und Weise mit der Welt verbinden. Wenn wir zum Beispiel den Sternenhimmel betrachten, so erblicken wir einen dunklen Himmel mit leuchtenden hellen Punkten. Dieser Himmel ist nur sichtbar, wenn man entsprechende Sinneswerkzeuge ausgebildet hat, die diesen wahrnehmen können. Das äußere Bild des Himmels wird nun innerlich empfunden und erhält eine Bedeutung. Der Sternenhimmel wird zur eigenen Angelegenheit, er wird mit eigenen Gefühlen verknüpft. Somit wird der Außenwelt eine innere Seelenwelt gegenübergestellt, die nur individuell innerlich erfahrbar, jedoch nicht von außen sichtbar ist.
Nun gibt es noch eine dritte Art, um sich mit der Welt zu verbinden: Man macht sich Gedanken über das Wahrgenommene. In diesem Fall macht man sich Gedanken über die Gesetzmäßigkeiten, die hinter den Bewegungen der Sterne stehen. Auf diese Weise findet man Gesetzmäßigkeiten, die außerhalb von einem selbst in der Welt existieren, Gesetzmäßigkeiten, die bereits vor einem da waren und auch noch nach einem da sein werden. Dadurch, dass ich diese Gesetzmäßigkeiten innerlich denken kann, kann ich mich mit den Gesetzmäßigkeiten außerhalb von mir verbinden. Ich nehme eine Übereinstimmung wahr, so dass sich die Welt in mir spiegelt und ich mich in der Welt spiegele. Genau in dieser Übereinstimmung liegt der Erkenntnisvorgang, der veranschaulicht, dass die Wahrheit nicht alleine in mir zu finden ist oder unabhängig von mir in der Welt existiert, sondern in der Begegnung zwischen der Welt und mir entsteht. Die Wahrheit liegt also dazwischen, sozusagen in der Goldenen Mitte. Wie Planeten um die Sonne kreisen wir in elliptischen Bahnen um diese Mitte. Mal sind wir weiter von ihr entfernt, mal befinden wir uns in ihrer unmittelbaren Nähe, aber wir sind in ständiger Bewegung.

Die Reise nach innen

Der Theosophie-Unterricht gibt einen Raum für eine Reise nach innen. Es ist eine lange und beschwerliche Reise, eine Reise, die keinesfalls nach der Teilnahme an der Theosophie-Stunde abgeschlossen ist, sondern gerade erst beginnt. Es ist eine Reise zur eigenen Identität, zu der Frage: Wann bin ich? Woher weiß ich, dass ich es bin, der über mein Leben bestimmt? Warum sitze ich eigentlich gerade in diesem Raum und stelle mir diese seltsamen Fragen? Dieser Weg ist nicht immer einfach, manchmal sieht man ihn auch nicht mehr. Oder man steht plötzlich vor einer Kreuzung und muss sich entscheiden, wohin man sich nun wenden soll. Um ihn zu gehen, kann man das Buch „Theosophie“ wie eine Landkarte nutzen. Es nimmt einem keinesfalls die Entscheidung ab, in welche Himmelsrichtung man sich wenden sollte, aber man bekommt einen Überblick über die Landschaft, in der man sich befindet.
Und wenn man gerade das Gefühl hat, mutterseelenallein in dieser Landschaft zu stehen, muss man sich während der Theosophie-Stunde nur umblicken, um zu bemerken, dass man keinesfalls alleine am Tisch sitzt: Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern kommen zusammen, um auf eine gedankliche Wanderschaft zu gehen. Am Anfang jeder Stunde erhält man davon einen Eindruck, da der jeweilige Wochenspruch von Rudolf Steiner
laut, in der Muttersprache eines jeden Teilnehmers, vorgelesen wird.
Menschen aus verschiedenen Kulturen kommen zusammen, um gemeinsam eine Reise anzutreten. Wir laufen nebeneinander her, doch jeder von uns muss sich selbst entscheiden, wie er seinen nächsten Schritt setzen möchte!
Die Kunst besteht nun darin ,die Gedanken, die während des Theosophie-Unterrichts bewegt werden, über das Gefühl mit der Tat zu vereinen, so dass sich derjenige, der die Wand denkt, mit der Welt verbinden und sie gestalten kann. Eine Welt, die vielleicht mehr ist als die Summe kleinster Bausteine, sondern durch die unmittelbare Erfahrung einen lebendigen wesenhaften Charakterzug erhalten kann, von dem viele Menschen (wie Alexander von Humboldt, Leonardo Da Vinci, Goethe oder Kepler) berichten. Diese Erfahrung findet durch die Begegnung statt und die Begegnung findet in der Gegenwart statt, welche die Zukunft gestaltet!

FÜHLE ICH DAS, WAS ICH DENKE?
WILL ICH DAS, WAS ICH FÜHLE?