Von Maximilian //
Der Beginn der Reise
21 junge Menschen machten sich morgens an einem Samstag im Juni, zusammen mit dem Seminarleiter Marco Bindelli, der Eurythmiedozentin Loriana Favro und dem Hausmeister Florian Kleszewski mit dem Bus auf den Weg Richtung Vogesen. Bei einem Zwischenhalt in Colmar, einer Stadt im Elsass, besuchten wir den weltberühmten „Isenheimer Altar“. Colmar hat eine kleine, schöne Altstadt, welche wir danach in kleinen Gruppen erkundeten. Endlich erreichten wir den Bauernhof der Eltern einer ehemaligen Seminaristin. Dort verbrachten wir die erste Nacht der Reise. Nach dem Abendessen ließen wir gemeinsam am Lagerfeuer mit gemeinsamem Singen, Gitarre und Trommel den Tag ausklingen. Einige von uns schliefen später auf der Wiese im Freien, andere verbrachten die Nacht im Heulager.
Am nächsten Tag besuchten wir eine Silbermine in Sainte Marie aux Mines. Ein Höhepunkt für mich war, daß wir mitten im Berg zehn Minuten in Stille und absoluter Dunkelheit verbrachten. Dann begannen wir einige unserer Lieder zu singen. Am Ende dieses Ausfluges gingen wir schweigend dicht an dicht ohne Licht, nur mit unseren Händen tastend wieder hinaus ins freie Gelände.
Der Steinofen wurde befeuert, während der Flammenkuchen vorbereitet wurde. Es war an genehm warm, während wir gemeinsam draußen aßen.
Das Wetter am Montag bei unserer ersten Wanderung war sehr heiß. An einem französischen Soldatenfriedhof aus dem 1. Weltkrieg hörten wir Tetsuros Referat über die Schlachten zwischen jungen französischen und deutschen Soldaten. Auf dem Rückweg kamen wir an einer Heilquelle vorbei, an der wir unsere Trinkflaschen auffüllten. Am Abend versammelten wir uns draußen um das Lagerfeuer, um Lorianas Geburtstagserzählung zu lauschen. Das war ein schöner Abschluss eines langen, anstrengenden Tages. Ich war überrascht, daß mir das Wandern leichter gefallen war als befürchtet.
Tornike
Der Dienstag sollte dann ein sehr einschneidender Tag in unser aller Leben werden, doch das konnte morgens noch keiner von uns ahnen. Oder vielleicht doch? Es war etwas merkwürdig, daß Tornike, ein 26-jähriger Georgier aus meinem Trimester, uns fragte, ob wir denn schwimmen könnten. Natürlich konnten wir schwimmen und ich wunderte mich über seine Frage.
So begannen wir unsere Wanderung zu einer Bergwiese, auf der ganz viele Arnika-Pflanzen zu bewundern waren. Wir setzten uns in die Wiese und zeichneten sie. Dabei kamen einige erstaunlich schöne Bilder heraus. Im Anschluß ging es weiter zu einem Bergsee auf über 1.000 Metern Höhe. Dort angekommen, gingen einige gleich ins Wasser. Zu diesen gehörte auch Tornike. Manche sagen, er sei auffällig langsam ins Wasser gegangen. Weil man ihn sonst auch als spaßigen Kerl kannte machten die meisten sich keine großen Gedanken, als er verschwand. Wir taten es als Scherz ab in der Annahme, er würde gleich an anderer Stelle wieder auftauchen. Erst einige Minuten später bemerkten wir seine Abwesenheit. Zuerst brach Unsicherheit aus: Wo war Tornike? Hatte er sich versteckt? War er zu weit rausgeschwommen? „Leute, lasst uns unter Wasser suchen!“ Eine Taucherbrille wurde ausgepackt und die Suche begann. Eine ihm nahestehende Trimesterkollegin fand seinen bewusstlosen Körper am Grunde des Sees. Wir hatten seine Not nicht schnell genug erkannt. Wir holten ihn sofort hoch und zogen ihn an Land, wo wir gleich mit Wiederbelebungsversuchen begannen. Zeitgleich wurden die Notärzte gerufen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis diese bei uns ankamen. Wir kämpften alle mit der Fassung, während wir darauf warteten, was die Ärzte sagen würden. Nach einiger Zeit kam Marco Bindelli zu unserer Gruppe, um uns die schlimme Nachricht zu bestätigen, vor der sich viele von uns sehr gefürchtet hatten: Tornike war gestorben. Es war aller- dings eigentümlich, daß diese Nachricht nicht alle erschütterte, sondern einige von uns schon im ersten Moment, als er aus dem Wasser getragen wurde unmittelbar dachten, daß es so sei. Manche wunderten sich sogar, daß sie dies nicht nur als furchtbar erlebten, sondern einen großen Frieden um ihn wahrnahmen.
Es war ein sehr nachdenklicher Weg zurück zum Oberlinhaus. Am Abend hatte jeder, die Möglichkeit, mit zwei Psychologen zu sprechen. Anschließend führten wir mit einem Pfarrer der Christengemeinschaft eine Abendandacht für Tornike durch. Die Stimmung war in den nächsten Stunden und Tagen natürlich sehr bedrückt. Allen fiel es sehr schwer, mit diesem Ereignis umzugehen. An diesem Abend fingen wir auch an, bei vielen Gelegenheiten, das lateinische Lied namens „Da pacem cordium“ („Gib dem Herzen Frieden“) zu singen. Wir lasen z.B. vor jeder Mahlzeit den Prolog aus dem Johannesevangelium und sangen dann dieses Lied. Es wurde das Lied für uns in diesen Tagen.
Trauer um einen geliebten Menschen
Wir versammelten uns auch, um auf Erlebnisse, die jeder mit ihm in letzter Zeit hatte, zu teilen. Trotz aller Trauer tauchte ein sehr lebendiges Bild von ihm auf und wir bemerkten, wie sehr er das Leben geliebt hatte und wie er sich auf die Reise gefreut hatte. Immer war er in Sorge um die anderen und wollte sie zusammenführen, wohl auch für sein eigenes Sicherheitsgefühl. Aber es tauchten auch im Rückblick einige Vorahnungen auf, die er wohl hatte. Er zögerte eine Weile, ob er die Reise überhaupt machen sollte. Es war auch eigentümlich, daß die Seminaristin, die ihn fand, erst am Dienstag nachreiste und es gar nicht sicher war, ob sie überhaupt bei der Wanderung dabei sein würde. Einer anderen Seminaristin sagte er wie im Scherz „ ich werde bald zu Hause in Georgien sein“ Sie sagte, „Das glaube ich nicht“. Er darauf:“ Doch, ich werde hinfliegen“. Andere wiederum fühlten, wenn sie nun an ihn dachten, daß er wie frei und glücklich auf sie wirkte. Weil er ein sehr humorvoller Mensch war, konnten wir bei manch geschilderter Situation mit ihm sogar schmunzeln. Tornike war auch derjenige unseres damaligen zweiten Trimesters, der am deutlichsten einen Schritt auf ein zukünftiges, besseres Leben zu gemacht hatte und wirklich anfing, sich selbst im Seminarkontext ernst zu nehmen. Er war derjenige, der sich auch immer um den Zusammenhalt unseres nicht immer einfachen Trimesters bemühte. In seiner Freizeit arbeitete er gerne in heilpädagogischen Einrichtungen, denn er liebte die behinderten Menschen sehr.
Die Stimmung bei der kleinen Wanderung am Tag danach war zunächst sehr nachdenklich und wir machten uns Sorgen, ob sich die Gruppe jetzt spalten würde. Einigen fiel es sehr schwer mit dem Schmerz umzugehen, deshalb setzen wir uns am Abend zusammen ans Lagerfeuer und erzählten uns gegenseitig, welche Rituale und Bräuche im Umgang mit dem Tod in den verschiedenen Kulturen noch leben. In der Ukraine verabschiedet sich die ganze Dorfgemeinschaft und kein Auto fährt auf den Straßen, in Georgien weiß man von Rhythmen nach dem Tod und feiert sie im Gedenken an den Verstorbenen und in Korea spricht man von 49 Tagen, bis eine Seele sich wie ein Engel zum Himmel erhebt. Nur im Westen sind die Formen sehr arm geworden. Vielleicht einer der Gründe, warum so viele Menschen sich vor dem Tod fürchten und ihn gerne verdrängen.
Rückreise
Am nächsten Morgen reisten ein paar von uns nach Stuttgart, vor allem um den Georgiern im Jugendseminar mit den Vorbereitungen für eine Gedenkfeier zu helfen. Die anderen entschlossen sich noch dazu, eine größere Wanderung zu machen. In der darauf folgenden Nacht begannen wir mit einer schweigenden Wanderung. Wir erlebten einen wunderschönen Sonnenaufgang und sangen auf dem Kamm der Vogesen. Wir hatten dort eine sehr schöne Aussicht nach unten, auch auf den See des Geschehens. Wir besuchten auch noch die schöne „Feenwiese“ und liefen Barfuß über das herrliche Gras. Wir legten uns hinein und sahen den Himmel über uns. Langsam löste sich die schwere Stimmung in der Gruppe und behutsam setzen wir unseren Weg über Felsen und den Lac Blanc und Lac Noir fort, zurück zum Oberlinhaus.
Wir kehrten schon am Samstag wieder ins Jugendseminar zurück und gedachten Tornike mit vielen georgischen Freunden. Wir erfuhren, daß er bei seinem letzten Besuch in Georgien innerhalb kurzer Zeit viele Menschen besucht hatte, die wichtig für sein Leben waren, um sich bei ihnen mit kleinen Geschenken zu bedanken. Wieder blitzte das Motiv der Vorahnung auf. Wir erfuhren auch, daß er schon in Georgien mit Herzproblemen zu ringen hatte. Wir ahnten, daß er mit einem kurzem, aber intensiven Leben rechnete. Die offizielle Todesursache ist uns bis heute nicht bekannt, aber ein Arzt erklärte uns, daß ein plötzlicher Herztod wohl sehr wahrscheinlich ist. Selbst wenn ein Krankenwagen direkt am See gewesen wäre, hätte man nicht helfen können.
Tornike wird immer bei uns sein
In den nächsten Wochen begannen wir jeden Morgen mit dem Hohelied der Liebe aus den Briefen an die Korinther von Paulus, dem Apostel. Wir machten zusammen Eurythmie und die Befürchtung, die Seminargemeinschaft würde zerbrechen, wandelte sich lang- sam in eine Vertiefung unserer Beziehungen, besonders sogar für unser Trimester. Manche dichteten Texte für ihn und das mündete in einen eigenen künstlerischen Teil unseres Sommer-Abschlußes. Dieser erhielt natürlich eine besondere Note und es war schön zu erleben , wie viele Menschen uns mit guten Worten und Gedanken beistanden.
Tornike wird immer bei uns sein und allmählich wandeln sich für mich die Fragen nach dem warum und was hätte ich tun können?, in eine Akzeptanz, daß der Tod, auch wenn er so überraschend und früh kommt, zum Leben dazu gehört. Wahrscheinlich war es Schicksal und Tornike hat uns alle daran teilnehmen lassen. Ich kann auch mit Dankbarkeit darauf zurück blicken, denn für mich und alle die dabei waren hat sich sehr viel in unserem Verhältnis zum Sterben und zum Tod geändert. Was sonst gerne verdrängt wird, weckt viele Fragen nach dem Sinn und dem danach. Ich fühle mit wachsender Gewissheit, daß Tornike nicht weg ist und ich hoffe und denke, daß es ihm gut geht, wo er jetzt ist.
Im stillen Gedenken an unseren Freund Tornike Gobejishvili,
Möge er in Frieden ruhen.