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Wieviel Welt passt in ein Jahr?

Rückblick auf mein Jahr am Jugendseminar 2017
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Von Frederike, Ehemalige //

Was passiert, wenn jeder zu seinem 18. Geburtstag ein Interrail-Ticket bekommt, das einem ermöglicht vier Wochen durch ganz Europa zu reisen?

Was passiert, wenn alle Jugendlichen der EU an der Schwelle zum Erwachsenwerden plötzlich nicht nur über Freiheit, Begegnung und Abenteuer nachdenken, sondern ihnen die Möglichkeit in einem Briefumschlag aus Brüssel direkt in die Hände fällt? Seit dem Sommer letzten Jahres gibt es tatsächlich so eine Initiative im EU-Parlament, die 1,5 Milliarden Euro kosten würde. Ich fände das Geld ziemlich sinnvoll investiert, wenn ich mich an mein Gefühl der Orientierungslosigkeit zu meinem 18. Geburtstag erinnere, an die langsam dämmernde Erkenntnis, dass ich von so ziemlich nichts viel Ahnung habe nach meinem Abitur…

Die Welt in einem Haus

Es wäre mein schönstes Geschenk gewesen: die Zeit anzuhalten und leben zu lernen. Ich habe mich nach der Schule nicht für die Weltreise, sondern für das Jugendseminar entschieden, nicht ahnend, wie viel mir von der großen weiten Welt in diesem gelben Haus auf dem Hügel begegnen würde. Ich meine damit nicht nur die Internationalität der Seminaristen, sondern auch die Weltoffenheit und Themenvielfalt der unterschiedlichsten Kulturen, das Zusammenleben und – arbeiten aller Menschen und dass Jugendliche aus aller Welt die gleichen Fragen bewegen wie ich.

Chaosjahr 2017

Das Jahr 2017 war ein Chaosjahr, nicht nur für mich, wohl auch für die Welt. Um das zu erkennen, muss ich nur den alljährlichen Rückblick meines E-Mail Verteilers lesen. Stichworte wie Trump, vor allem im Zusammenhang mit Nordkorea und Jerusalem, Harvey Weinstein und die ganze folgende Sexismus-Debatte, Terroranschläge, von den Medien bis in alle Kleinigkeiten aufgebauscht, Bundestagswahl und eine Regierungsbildung, die bis heute nicht abgeschlossen ist, sind nur die Spitze des Eisbergs. 2017 war auch für das Jugendseminar kein leichtes Jahr. Es gab viele Auseinandersetzungen, sowohl der Seminaristen unter sich, als auch mit den Dozenten. Regeln wurden in Frage gestellt und neu diskutiert, Geldsorgen warfen ihre Angstschatten, viele erlebten die Konfrontation mit sich selber als ein plötzliches schmerzhaftes Erwachen. Die Tatsache, wie wichtig Kommunikation ist, wenn man miteinander lebt, war ein Felsbrocken, an dem sich im Laufe des Jahres alle mindestens einmal gestoßen haben. Ob der Unterschied zwischen Wünschen und Wollen jedem von uns klar geworden ist, kann ich nicht sagen. Auch äußerlich ist viel passiert, wie zum Beispiel Gesprächsrunden mit Stiftungsvertretern oder Umstrukturierungen, auch innerhalb der Dozenten.

Ein tiefer Einschnitt

Der mit Abstand größte Einschnitt fällt mir nach wie vor schwer in Worte zu fassen. Der Tod von unserem Mit-Seminaristen Tornike im Juni hat ein tiefes Loch in den Schleier des Alltags und der Gewohnheiten eines jeden gerissen und so mancher Frage eine andere Dringlichkeit verliehen. Was wollen wir eigentlich und warum sind wir da? So hautnah an der Endlichkeit eines Lebens zu sein, rüttelt wach für den Wert, den Sinn und die Folgen unserer Taten.

Neues kann entstehen

Alle Dinge haben ihren Rhythmus, unser Stoffwechsel hat ihn und jeder Tag und jedes Jahr. Warum also auch nicht die Jahrzehnte, die Jahrhunderte oder das ganze Weltgeschehen? Mein Jahr am
Jungendseminar ist in ein Chaosjahr gefallen und hat mich kräftig wachgerüttelt. Aber wir brauchen auch das Chaos um neu bauen zu können. Wie der Phönix erst zu Asche verbrennen muss, um neu geboren zu werden, muss ich, müssen wir alle und muss wohl auch die Welt Trümmer erleben. Die Last, die auf den
Schultern meiner Generation die Gestaltung der Zukunft betreffend liegt, ist daher auch ein Privileg. Die
Welt wird zum Ort für unsere Kreativität und unseren Gestaltungswillen und alle unsere Ideale, Visionen und
die Dinge, die sich bewährt haben, können wir mit einbauen. 2017 hat so viel aufgebrochen, manchmal fast übergriffig und jetzt bin ich gespannt, was daraus geboren werden wird.