Von Manuel //
Ich komme aus einer schönen Stadt am Bodensee: Überlingen. Bis wir dort unser Zuhause gefunden haben, bin ich mit meinem Bruder und meiner Mutter sehr oft umgezogen. Daher kenne ich das Gefühl gut, in einer neuen Umgebung anzukommen und erst einmal nicht zu wissen, wo der eigene Platz zwischen all diesen neuen Situationen, Menschen und Orten ist.
Als ich am Jugendseminar ankam und das erste Mal die Treppen zu der großen, roten Tür empor stieg, hatte ich bereits das Gefühl, dass ich hier einen besonderen Ort erleben darf. Hier würde ich meinen Platz schnell finden und den künstlerischen, schöpferischen Geist, der diesem Ort innewohnt, schnell schätzen lernen.
Fremde
Ein kleines Licht wurde in mir wach, angekommen zu sein. An einem Ort, der mir die Chance gibt, mir selbst in einer lebendigen und facettenreichen Umgebung zu begegnen. Wie eine Blume, die den Winter über ihre Kraft in ihrem Inneren bewahrt hat, und nun diese wohl behütete Kraft in die Blüte lenken kann. Mit den ersten Schritten in das Wohnzimmer und die Küche des ersten Stocks fing dieses Licht an zu leuchten, als mir Davit begegnete, ein georgischer Freund. Das letzte Mal trafen wir uns 2017 in einer anthroposophischen Einrichtung, der Camphill Schulgemeinschaft Föhrenbühl, in der wir zeitgleich ein freiwilliges soziales Jahr absolviert haben. Danach war sein Visum ausgelaufen und er musste zurück nach Georgien. In der Zwischenzeit hatten wir keinen Kontakt mehr zueinander. Umso magischer erschien mir daher dieses plötzliche Aufeinandertreffen im Jugendseminar und bestärkte mich in meinem Gefühl, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.
Begegnungen
Ich wusste, hier wollte ich bleiben, und so dauerte es nicht lange, bis ich auch die anderen Menschen am Jugendseminar kennen lernen durfte. Ich lernte Menschen kennen aus Japan, aus Süd-Korea, aus Taiwan, Russland, Italien… Ich durfte Musikinstrumenten lauschen, von denen ich bis dahin gar nicht wusste, dass sie existieren. Ich durfte mich mit Menschen austauschen aus verschiedenen Kulturen und in ganz unterschiedlichen Phasen ihres Lebens und der Begegnung mit sich Selbst.
Und doch hatten sie alle eines gemeinsam, egal ob sie schon lange in Deutschland wohnhaft, oder erst vor wenigen Tagen aus einem fernen Land wie Japan angereist waren. Sie haben sich alle dafür entschieden, hier her zu kommen und ein Teil dieser lebendigen, ständig über sich hinauswachsenden Gemeinschaft zu werden.
Heimat
Und so hebt sich immer mehr der Schleier des Fremden, des Unbekannten und jeder vermag sich selbst und den anderen so zu begegnen, wie er möchte, wie er kann, wie er ist. In diesem Gemeinsamen individuell sein und authentisch sein dürfen, ermöglicht, daß jeder Mensch gesehen wird und so können wir alle voneinander und miteinander lernen, was es überhaupt bedeutet, Mensch zu sein. Hinter den kulturellen Prägungen und denen der Gesellschaft angepassten Mechanismen, welche vermeintlich der Integration dienen sollen, und gleichzeitig doch nicht der Verwirklichung einer lebendigen Gemeinschaft freier Individuen dient, schlummert ein verborgenes Potenzial, das hier zur Erscheinung kommen kann. Für diese Form der Begegnung bin ich dankbar. Für diese Form der Begegnung bin ich hier.
Es ist egal, wo man ist, wenn man sein Herz ein Stück öffnen kann, wird man seinem wahren Zuhause einen Schritt näher kommen. In diesem Sinne ist das Jugendseminar wie ein Tor, durch welches man, wenn man hindurch tritt, eine gute Chance hat sein inneres Zuhause zu finden, auch wenn man von einem weit entfernten Ort stammt.