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Zukunftsmusik

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Von Veri //

 

„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Böse Menschen haben keine Lieder.“

Dieses Sprichwort ist im deutschen Volksmund wohl bekannt. Auch auf das Jugendseminar scheint diese Aussage zuzutreffen. Nicht selten haben SeminaristInnen in letzter Zeit durch ihre Klänge andere bewegt. So haben sie dem einen oder anderen Menschen ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, Leute zum Tanzen bewegt, grimmige Gesichter entspannt, Kinder enorm in ihren Bann gezogen, PassantInnen die eine oder andere Träne der Berührung entlockt und sogar eine ganze Bahnhofshalle für einen Moment in atemberaubende, pulsierende Stille versetzt. Welch Kraftaufwand wäre nötig, um als einzelner Mensch durch Worte eine ganze Bahnhofshalle zum Schweigen und Lauschen zu bringen?

Als Gemeinschaft war das relativ einfach. Oder doch nicht? Wohl sind für drei Minuten Singen teilweise drei Monate Arbeit nötig. Der Aufwand, ein neues Stück einzustudieren, schreckt anfangs nicht wenige SeminaristInnen ab. Ist dieser Zustand jedoch einmal überwunden, klingen die neuen Melodien bald aus jederlei Munde. Dann hört man die neuen Klänge aus der Küche, im Unterricht und aus dem Badezimmer. Binnen kurzer Zeit schon ist die Arbeit des Einstudierens vergessen, steht das unproportional wirkende Verhältnis drei Monate Arbeit für drei Minuten Musik doch in keiner Relation zu dem Erlebnis, wo wir am Ende des Tages landen. Nämlich in Sphären jenseits von Zeit und Raum. Wir singen uns dorthin empor, wo sich diese Parameter auflösen, wo es nur noch tönt, wo die Grenzen zwischen uns und den einzelnen Stimmen verschwimmen, wo alles ein Klangerlebnis ist. Dorthin zu gelangen ist nicht immer einfach. Dazu müssen wir oft erst einige graue Schichten, die uns bedecken und die die Reinheit trüben, ablegen und uns öffnen. „Singen ist eine edle Kunst und Übung“, wie Martin Luther schon meinte.

Müssen wir doch die nötige Größe aufbringen, das eigene Ego immer wieder zurückzustecken und nicht lauthals in die Gruppe zu grölen, sondern aufeinander zu hören, um einander zu hören. Müssen wir doch erstmal einen gemeinsamen Rhythmus finden, eine Basis, auf die wir bauen können.

Weiteres sollten wir in derselben Grundstimmung sein – bei 35 Leuten meist keine von Natur gegebene Sache, sind ja viele von uns grundsätzlich eher in Moll gestimmt, andere eher in Dur… Wir müssen erst lernen, nicht harmoniesüchtig zu sein, sondern Dissonanzen auch auszuhalten, mit Genuss uns auf das Wechselspiel zwischen Dissonanz und Konsonanz, auf Spannung, einzulassen.

Sollten wir doch verantwortungsvoll unsere eigene Stimme können, uns nicht allzu sehr auf die anderen verlassen, sondern präsent unsere Stimme erheben, unseren Weg gehen, jedoch immer die anderen im Bewusstsein mitnehmen, einladen, Pausen aushalten, ertragen, wenn wir gerade nicht an der Reihe sind, ohne dabei abzudriften, sondern mit Präsenz ganz dabeibleiben.

Wir müssen anerkennen, dass jede Stimme gleich wichtig ist, dass wir nur durch unterschiedliche Aufgaben zu einem großen, vielfältigen Ganzen beitragen. Wir kommen weiter, wenn wir erkennen, dass es sehr viele Nuancen von Lautstärke gibt, dass forte nicht immer gewinnt, dass Pausen gleich wichtig sind, wie Aktivität und dass in der Stille eine große Kraft liegt.

Wenn wir uns diesem oben genannten Zustand nähern, merken wir, dass bald „alles stimmt“. Wir stimmen uns aufeinander ab, stimmen uns gemeinsam ein, stimmen überein. Nicht einer gibt den Ton an, sondern der Ton offenbart sich uns. Indem wir uns im Chor vereinen, schwingen und klingen wir in und mit etwas, das mehr ist als wir zusammen.

Als Teil eines großen Ganzen wird ein Klangerlebnis erfahrbar, das sehr bewegend sein kann, kraftspendend, heilsam; das Welt(en) öffnen und eine ganze Bahnhofshalle in atemberaubende Stille versetzen kann.

Es gibt am Jugendseminar täglich die Möglichkeit, solche Erfahrungen zu machen oder den Weg dorthin zumindest zu üben. Hier ist Chorgesang Teil eines Schulungsweges für ein gesundes, soziales Miteinander. So ist das Jugendseminar ein Ort, wo wahrnehmbar – wenn man genau hinhört – Zukunftsmusik geboren wird und klingt.