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Entwicklungslabor für junge Menschen

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Von Mathias Maurer //

Das Jugendseminar in Stuttgart feiert seinen 60. Geburtstag

Als „Entwicklung-Labor“ bezeichnet sich das Stuttgarter Jugendseminar, das in einer Villa in der Ameisenbergstraße residiert. Das heißt, hier darf experimentiert werden im geschützten Rahmen einer lernenden Wohn- und Lerngemeinschaft bestehend aus 35 jungen Menschen zwischen 18 und 28 Jahren aus zwölf Nationen und einem zehnköpfigen Mitarbeiterteam. Rund 20 Gastdozenten gehen dort zum Teil seit vielen Jahren ein und aus und bieten eine Art Studium Generale in mehreren Trimestern an, das von der Medizin, Wirtschaft, Biologie, Geschichte bis zu Kunst, Medien und Philosophie reicht, aber auch praktisches Tun, soziale Arbeit, Haus- und Gartenpflege und Bildungsreisen beinhaltet. Bewusst wird der Persönlichkeitsentwicklung viel Freiraum gegeben, denn Selbstfindung und Wege in die Gesellschaft sind in einer krisengeschüttelten Welt keine glatte Sache mehr. Kaum ein Tag vergeht, dass Meldungen veröffentlicht werden über den kritischen Zustand vieler junger Menschen: Einsamkeit trotz ständiger Online-Präsenz, Ernährungsstörungen, psychische Belastungen, Antriebslosigkeit, Bewegungsmangel, Sinnkrisen und vieles mehr konstatieren zahlreiche Studien. Das Jugendseminar in Stuttgart stößt mit seinem Konzept, Entwicklungsräume zwischen Schule, Studium und Beruf zu eröffnen, in denen sich Ich-Findung und die Entdeckung der eigenen Berufung in einer Welt zunehmender Entfremdung ereignen können, auf zunehmenden Bedarf. Wie die neue SINUS-Jugendstudie 2024 bestätigt: „Die Sorgen der Jugendlichen sind – trotz der derzeitigen multiplen Krisen – meist privater Natur.“ Gleichzeitig bietet das Jugendseminar, in dem die jungen Menschen zusammen wohnen, einen Rahmen, der ihrem Bedürfnis nach „Sicherheit, Halt und Geborgenheit“ entgegenkommt. „Es werden keine Rezepte geliefert“, so Marco Bindelli, der das Jugendseminar seit 22 Jahren leitet, „vielmehr versuchen wir dasjenige freizulegen, was jeder schon in sich trägt. Wir wollen, dass die jungen Menschen ihre Bildung selbst in die Hand nehmen.“ Denn „Seminarist“ kommt von „seminare“ (säen) und das Jugendseminar möchte den Boden dafür bereiten, dass der Same aufgeht, führt Bindelli aus. Auf diesem Weg der Identitätssuche begleiten vielfältige künstlerische Angebote, vom Theater spielen, über Chor und Sprachgestaltung, gemeinsam Musik machen bis zu Bothmergymnastik und Eurythmie das Ausbildungsprogramm und fordern nicht nur den Kopf, sondern auch Herz und Hand.

So ist auch schon der Gründungsimpuls nicht von „klugen, älteren Leuten“ ausgegangen, die den jungen Menschen wohlgemeinte Ratschläge geben wollen, sondern von der Jugend selbst. Begonnen hatte es in den 1950er Jahren mit Berufsorientierungskursen, doch das war den jungen Menschen zu wenig. 1964 kam es dann zur Gründung des Jugendseminars, das seither von der Mahle-Stiftung unterstützt wird. Rund tausend Euro pro Monat müssen die Seminaristen inklusive Reise- und Taschengeld kalkulieren.

Das Jugendseminar ist eine einzigartige Bildungseinrichtung in Stuttgart und weltweit bekannt, besonders in der anthroposophischen Szene. Dem Bedarf folgend wächst die Einrichtung, besonders nach der Corona-Pandemie. Viele Seminaristen meinten, ein Jahr reiche oft nicht aus, um „bei sich anzukommen“. Deshalb ist das Angebot auf zwei Jahre ausgeweitet worden. Da es jetzt schon eng zugeht in der Ameisenbergstraße, sucht man nach einem weiteren Standort.