Von Lukas Schaaf //
„Das Künftige ruhe auf Vergangenem“
Unser Jubiläumsgeschehen wurde eingeläutet durch die erste Zeile der Steinbock-Stimmung. Das, was mich immer wieder an der Stimmung anrührt, ist das für mich darin auch anklingende Verhältnis von Neuem und Altem beziehungsweise Jungem und Altem.
Mich begleitet in meiner Tätigkeit am Jugendseminar stark die Frage, ob es einen Impuls der Jugend gibt und in welcher Beziehung dieser Impuls zu der älteren Generation dann stünde. Ist das, was eine junge Generation „mitbringt“ ein Künftiges? Repräsentiert die ältere Generation wirklich nur das Vergangene oder weist die zweite Zeile der Steinbock-Stimmung nicht auch auf eine Aufgabe dieser Generation hin?
„Vergangenes erfühle Künftiges“
Die Zeile ließe sich von diesem Gesichtspunkt verstehen als Aufforderung zur Geburtshilfe eines Jugendimpulses, eines rechten Verständnisses für das Künftige durch die ältere Generation.
Die Geschichte zeigt, dass eine Zusammenarbeit der Generationen selten leicht vonstatten ging, die Geschichte der anthroposophischen Bewegung eingeschlossen.
Die Dringlichkeit der Zusammenarbeit beschreibt Rudolf Steiner während einer Ansprache am 6.1.1923, ein paar Tage nach dem Brand des ersten Goetheanum. Der Kulturerneuerungsimpuls der Jugend sei im Kern dasjenige, was man durch die Anthroposophie als Weiterentwicklung der Menschheit versteht. In der Zusammenarbeit würde also das entstehen können, was in der dritten Zeile der Steinbock-Stimmung auftaucht: „Zu kräftigem Gegenwartsein“.
Wo aber ist dieses „kräftige Gegenwartsein“ zu finden?
Wirft man einen Blick auf die Weltlage, so erscheinen einem auf der einen Seite längst vergangen geglaubte Phänomene. Auf der anderen Seite tauchen Fortschritt propagierende Entwicklungen auf, die aber doch nur etwas Vergangenes reproduzieren; etwas wirklich Neues ist kaum zu finden. Ein Gegenwartsein würde aber doch die Notwendigkeit dessen, was jetzt ansteht, angehen – kräftig angehen.
Die Bildung
Bildungseinrichtungen sind nun mal die Orte, wo ein Treffen der Generationen stattfindet. Sie wären also der Ort, an dem das Aufwecken der Jugendimpulse stattfinden könnte. Die fatale Situation der Bildung ist ein Altes, das gegenwartsbeherrschend ist; Christian Morgenstern schrieb über seine Schulzeit:
Zuerst hat mich die Schule zur Unaufrichtigkeit verleitet, sodann hat sie meine Sittlichkeit gefährdet, darauf hat sich mich durch absolute Nichtachtung und Verhöhnung meiner Individualität verbittert und verdüstert, zuletzt hat sie mich tödlich gelangweilt.
Ein weiteres Zitat, diesmal von Werner Pache aus dem Jahr 1930, beschreibt die Situation des jungen Menschen nach der Schulzeit:
Jede neue Generation hat der Welt etwas Neues zu bringen. Das lebt im Bewußtsein des jungen Menschen, der zu Kulturverantwortung erwacht und seinen Beruf sucht. Das macht seine Jugendkraft aus und seinen Idealismus.
Was findet er heute vor? […] Überall die gleiche Erscheinung: Ermüdung im eigentlich menschlichen Streben. Eine ungeheure Resignation lastet auf uns.
Morgenstern und Pache beschreiben eine Situation, die der heute lebende Mensch allzu sehr wieder erkennt. Nicht zuletzt der Einfluss der Wirtschaft auf die Bildung diese Tendenzen stark befeuert. Hat sich die von Pache bezeichnete „Ermüdung im menschlichen Streben“, noch weiter herabgedämpft, sodass Müdigkeit nicht nur im Streben, sondern immer mehr im alltäglichen Befinden auftritt?
„Müdigkeitsgesellschaft“
So beschreibt der Philosoph Byung-Chul Han den Zustand der Gesellschaft, der in Krankheiten des Zuviels mündet: Burnout-Syndrom als die bekannteste Krankheit. Für Byung-Chul Han speist sich die Müdigkeit aus dem Übermaß an Potentialität: alles können zu können, bis man selbst nicht mehr kann.
Es wäre mit Verweis auf Paches Aussage nun eine falsche Konsequenz, zu sagen: Ich mache wenig, also geht es mir gut. Geht es nicht um die Qualität der Tätigkeit? Pache nannte es „menschliches Streben“. Nennen wir es das innere Streben eines Menschen, an etwas „dran zu sein“, das mit einem selbst und der Welt zu tun hat, dann lässt sich unschwer feststellen: ein solches Streben wird selten gefördert, geschweige denn gelehrt.
Es müsste also das wirkliche Streben erlernt werden, um sich auf der einen Seite nicht zum Ausbrennen zu arbeiten und um auf der anderen Seite die Impulse einer Generation auch wirklich zum Tragen kommen zu lassen. Trifft dann diese junge, strebsame Generation auf die ältere, erfahrene Generation, können natürlich Reibungen passieren. Doch was kann dabei entstehen? Ein Hinweis dazu lässt sich aus den weiteren Zeilen der Steinbock-Stimmung erahnen:
„Im inneren Lebenswiderstand
Erstarke die Weltenwesenwacht
Erblühe die Lebenswirkensmacht
Vergangenes ertrage Künftiges“.
Wie soll das gehen?
In der schon oben erwähnten Ansprache spricht Steiner der älteren Generation eine Aufgabe zu, nämlich den Bestrebungen der jungen Generation ein Verständnis entgegen zu bringen, um auch selbst Verständnis entgegengebracht zu bekommen:
Mögen die jüngeren Leute ihr Bestes bringen, mögen die älteren Leute dieses Beste verstehen, möge Verständnis von der einen Seite Verständnis auf der anderen Seite finden: dann allein kommen wir vorwärts.
In diesem Sinne wird auch das Jugendseminar versuchen, sich weiterzuentwickeln. So wollen wir z.B. durch das sogenannte Zweite Jahr Jugendseminar Selbstbildungsräume ermöglichen, um der eigenen Tätigkeit auch wirklich die Strebekraft zu geben, die es braucht.
Das Künftige ruhe auf Vergangenem.
Vergangenes erfühle Künftiges
Zu kräftigem Gegenwartsein.
Im inneren Lebenswiderstand
Erstarke die Weltenwesenwacht,
Erblühe die Lebenswirkensmacht.
Vergangenes ertrage Künftiges!
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Literatur
Rudolf Steiner, Die Erkenntnisaufgabe der akademischen Jugend, in: GA 217a.
Christian Morgenstern, zitiert nach Michael Bauer, Christian Morgensterns Leben und Werk (Gesammelte Werke, Bd. 3), Stuttgart 1985, Zitat: S. 48.
Werner Pache, Die jüngere Generation und der Fortgang der Kultur, in: Kamp de Stakenberg, Berlin 1930, zitiert aus veröffentlichtem Archivmaterial in: Christiane Haid, Auf der Suche nach dem Menschen, Dornach 2001.
Byung-Chul Han, Müdigkeitsgesellschaft, Berlin 2010, Zitat: S. 23