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Ein Hauch von Gottheit

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von Sophie Müller //

Ich sitze im Schneidersitz auf einer Mauer im Tal der Könige und blinzele der Sonne mit meinen geschlossenen Augen entgegen.
Ich fühle, wie mein leichtes, beigefarbenes Baumwollkleid den Staub der Wüste einatmet und langsam eins wird mit ihren Farben. Die Strahlen der Nachmittagssonne sind warm auf der Haut und tauchen die Umgebung in eine ruhige Atmosphäre.
Aber es sind nicht die Sonnenstrahlen allein, die diese Stimmung erzeugen. Die großen Gebirgsklippen aus thebanischem Kalkstein stehen kraftvoll im Reich der toten Könige, behüten ihre heiligen Gräber. Sie nehmen die Sonne auf und schenken ihre Energie der Umgebung und denjenigen, die sie empfinden können.
Wechselnd ein Auge geschlossen, spiele ich ein bisschen mit meiner Perspektive und verharre in einer Position, aus der ich das Farbenspiel zwischen dem azurblauen Himmel, den ocker-beigen Felsen und dem hellen Sandboden sehen kann. Das Bild, welches sich mir bietet, ist so prachtvoll.

In diesem Moment muss ich an die Mythologie des alten Ägyptens denken, die uns seit Beginn unserer Reise beschäftigt. Die Ägypter empfanden zu ihrer Zeit das Leben ringsum ganz anders als wir heute. Sie lebten in einem Lebensraum, in dem die Phänomene der Natur, die uns umgebenden, wirksamen Kräfte, als wesenhafte Realitäten erlebt wurden:
Der Wind, die verschiedenartige Kraft der Sonne, das ätherische Leben, die Elemente, die Qualitäten der Planeten und des Tierkreises, Seelenstimmungen, Tugenden…
Aus der Empfindung dieser Wesenheiten heraus, schufen die Ägypter Götter-Bilder, die diesen Empfindungen eine Gestalt geben sollten. In Tempeln und Gräbern erzählen die gemalten und eingemeißelten Bilder Geschichten vom diesseitigen und jenseitigen Leben und beschreiben den Einweihungsweg des Pharaos.

Wie viele Götter sind in diesem Moment wohl tätig, an dieser besonderen Nachmittagsstimmung beteiligt?

Ein Schwarm junger Ägypter zieht an mir vorbei und beäugt mich neugierig, während ich mir diese Frage stelle und sie wieder ziehen lasse. Ich habe mich noch nicht wirklich daran gewöhnt, als Frau ohne Kopftuch stets die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
Eine kleine Feder verirrt sich in meinen Schoß, ich nehme sie zwischen die Finger und streichle gedankenversunken daran herum- Die Feder, ein Symbol der ägyptischen Göttin Maat. Sie ist die Herrin der Gerechtigkeit, der Wahrheit und der Weltordnung.

Das muss Aufgabe der Kunst sein, blitzt es durch meine Gedanken.
Ist die von den alten Ägyptern empfundene und in Bildern ausgedrückte Weltenweisheit nicht das, was wir suchen in der Kunst? Eine Erinnerung an unseren Ursprung, an das Wesentliche?
„L’essentiel est invisible pour les yeux“, – das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar-, belehrt der Fuchs den kleinen Prinzen. Ja; es liegt also nicht am Sehen allein. Aber es liegt an der Art des Schauens, was wir sehen und verstehen.
Vielleicht ist es ja doch sichtbar in Bildern, wenn wir sie innerlich wirken lassen und in uns nach ihrem Leben suchen. Genauso ist es mit dem Hören, dem Verstehen der Sprache der Musik und Poesie.
Betrachten wir die Hieroglyphen und Götterbilder, ja die Kunst im allgemeinen mit dieser Aktivität, eröffnet sie uns ihren Sinn. Es entsteht ein Zusammenhang, eine Geschichte, in die ich mich selbst involviere, und die Bilder werden herausgehoben aus der Abstraktion.

Langsam trudeln alle von ihren Exkursionen durch die Gräber und die umgebende Landschaft ein und ziehen zu unserem Bus, der uns zum Hotel bringen soll.
Ich wende mich noch einmal um und bin dankbar für die vielen Eindrücke und Denkanstöße, die mir dieser Ort geschenkt hat. Ich werde sie mitnehmen in meinen Alltag nach Deutschland.