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Lernen, in einer fremden Sprache zu fühlen

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Eine große Anziehungskraft des Jugendseminars sind die künstlerischen Abschlussprojekte des dritten und letzten Trimesters. Jedes Trimester wählt sich selbst ein Projekt. Manchmal ist es kreative Bühnenkunst, manchmal auch Schauspiel. Die Projekte sind jedes Mal sehr unterschiedlich. Wenn sich ein Trimester für kreative Bühnenkunst entscheidet, können sich die Teilnehmer auch ein Kunstwerk ganz selbst entwickeln. Die Prozesse, die ans Ziel führen, sind dabei immer spannend und stellen einen oft vor große individuelle Herausforderungen.

von Shuka aus Japan

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In den Sommerferien habe ich viel überlegt, für welches Projekt ich mich engagieren will. Ich war mir fast sicher, dass ich ein Theaterstück machen möchte. Als das neue Trimester begann, bestand mein Trimester insgesamt nur aus zwei Leuten, mich eingerechnet. Am Ende wurde aus der Idee mein ganz eigenes Projekt. Ich wollte ein leidenschaftliches Liebesstück spielen um auch etwas aus meinen eigenen Erfahrungen zu erzählen. Aber ich konnte keines finden, das mir wirklich gefiel. Die leidenschaftliche Liebe, die Einsamkeit, die Eifersucht und der Hass: Ich suchte ein Theaterstück, das alles miteinander verband. Letztendlich fand ich ein Theaterstück von Anton Tschechow mit dem Titel „Der Bär“.

In dem Stück geht es um eine Witwe um Ihren verstorbenen Mann trauert. An seinem Todestag kommt nach sieben Monaten ein Mann in ihr Haus und beansprucht die Begleichung der Schulden, die ihr verstorbener Mann nicht mehr zurückzahlen konnte. „Wenn ich nicht morgen mein Geld erhalte, beanspruche ich Eurer Grundstück“, sagt der Mann. Die Witwe ärgert sich, denn der Mann hörte ihr Klagen nicht und verkündet, so lange in ihrem Haus zu warten, bis sie bezahle.

Ein Revolverduell und ein langer, leidenschaftlicher Kuss

In dem Stück geht es also um einen Mann und eine Frau, die sich zum ersten Mal begegnen und sofort anfangen zu streiten. Die Auseinandersetzung eskaliert, bis sie sich schließlich sogar mit Revolvern duellieren wollen. Aber während des Streits entwickeln sie Gefühle füreinander. Als der Streit seinen Höhepunkt erreicht, bemerkt der Mann, dass er sich in die Frau verliebt hat und gesteht ihr dies. Nun gerät sie in Verlegenheit: «Mag ich ihn, oder mag ich ihn nicht…?» Einerseits beschimpft sie ihn, andererseits empfindet sie durchaus etwas für ihn. Das Stück endet mit einem Happy End und einem leidenschaftlichen, langen Kuss.

Das Stück ist ganz und gar ein typisch russisches Drama. Die Gefühle der Menschen sind denen der Menschen in meiner japanischen Heimat sehr entgegengesetzt. Warum ärgert sie sich zuerst so über den Mann und verliebt sich am Ende doch in ihn, obwohl sie ihn zuerst hasst? Ich konnte der Veränderung ihrer Gefühle nicht folgen. So sehr ich mich bemühte, ich spielte bloß eine anständige japanische Frau.

Das Stück brachte mich in echte Verlegenheit, weil es für mich so schwer war, diese Rolle in einer fremden Sprache darzustellen. Ich sprach einfach nur nach, was ich auswendig gelernt hatte, doch die Sätze waren nicht mit wirklichen Gefühlen in mir verbunden. Obendrein brauchte ich sehr lange Zeit, den Text auswendig zu lernen. Wenn ich einen neuen Textteil gelernt hatte, ich die übrigen meist schon wieder vergessen. Durch die vielen Wiederholungen verlor ich fast mein Selbstvertrauen, aber meine Freunde im Seminar stärkten mir immer wieder den Rücken.

Eine Mauer – und dann doch Begeisterung

Während der Arbeit spürte ich eine Mauer vor mir: In einer fremden Sprache zu schauspielern ist sehr schwierig. Wie sehr ich mich auch bemühte, ich konnte den Text nicht wie ein Deutscher aussprechen. Wenn ich auf der Bühne plötzlich nicht mehr wusste, was ich sagen sollte, konnte ich nicht improvisieren, obwohl ich das gerne gemacht hätte. Das ist tatsächlich passiert, weil ich sehr aufgeregt war. Und keiner weiß vorher, was auf der Bühne passieren wird.

Aber ich liebe den Nervenkitzel. Durch diese Beschäftigung fing ich an, die Schauspielerei mehr zu mögen. Manche Leute sagen, dass man nur in der Muttersprache schauspielern kann. Aber ich kann nun sagen, dass ich so viel mehr nicht nur über die Schauspielkunst, sondern auch über mich und mein Verhältnis zur Sprache gelernt habe.